13

 

 

White Horse wusste über Mary Bescheid, auch wenn sie einander noch nie begegnet waren. Mary schien erfreut, sie kennen zu lernen, wirkte aber verärgert, als sie hörte, dass Jude erst am Abend zurückkam. White Horse bot ihr an, auf ihn zu warten, denn lange könne es nicht mehr dauern – er habe gesagt, sie solle gegen sieben mit ihm rechnen. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und ließen den Fernseher leise im Hintergrund laufen. White Horse trank Kaffee. Mary entschied sich für Tee, den White Horse nicht finden konnte, doch Mary kannte sich in der Küche aus und spürte ihn rasch auf.

»Hm«, sagte sie, nachdem sie die Schachtel geöffnet hatte. »Schon wieder der letzte Beutel. Er vergisst beim Einkaufen immer, welchen mitzubringen.« Zuerst wollte sie den leeren Karton draußen stehen lassen, doch dann stellte sie ihn in den Schrank zurück. Mit ihren manikürten Händen rückte sie ihn zurecht, bis er wieder genau dort stand, wo sie ihn vorgefunden hatte. White Horse blickte auf ihre verbrannten, schwieligen Hände, versuchte aber nicht, sie zu verstecken. Sollte Mary doch denken, was sie wollte.

Zuerst verlief ihr Gespräch sehr zäh, doch kaum hatten sie zu dem einzigen Thema gefunden, das sie beide interessierte -Jude –, als White Horse klar wurde, dass Mary ihm näher stand als sie. Sie bemühte sich, die besitzergreifende Eifersucht zu übersehen, die in ihr anwuchs, je länger sie miteinander redeten; sie trug die Schuld, dass so viele Jahre in Schweigen verstrichen waren. Wenigstens erhielt sie durch die entsetzlichen Geschehnisse nun eine Chance, die Beziehung zu ihrem Bruder wieder in Ordnung zu bringen.

Mary saß entspannt auf der Couch und erzählte von ihrer langfristigen Jagd auf diesen einen Kerl, wobei sie Einzelheiten wegließ, über die sie aus Gründen der Geheimhaltung nicht sprechen dürfe. An der Schnoddrigkeit, mit der Mary erzählte, erkannte White Horse, wie viel Freude es ihr bereitete, Zugang zu Macht und Informationen zu besitzen, die nur Eingeweihten zugänglich waren.

»Das erste Mal stießen wir auf ihn, als wir versuchten, russische Mafiosi zu überführen, die ihre Lieblings-Basketballspieler mit Steroid-Stimulanzien gespickt hatten – Sie wissen vielleicht, dass die Russen-Mafia hierzulande groß im Sportgeschäft mitmischt. Die Stimulanzien waren clever modifiziert; sie bringen den Organismus dazu, dass er in großem Maße bestimmte körpereigene Substanzen produziert. Danach verabreichten sie den Sportlern ein anderes Mittel, das die Stimulanzien wieder aus dem Blutkreislauf herausfischte, sodass bei Kontrollen keine allzu große Gefahr bestand, erwischt zu werden. Sie wissen ja, nachdem das Theater um das Nandrolon endlich zu Ende war, mussten die gesetzlichen Grenzwerte für eine Reihe körpereigener ›Chemikalien‹ neu festgelegt werden, und darauf zählten die Russen. Sie waren eifrig damit beschäftigt, Spieler zu tauschen und Geld zu scheffeln, und als Jude und ich ihnen in Detroit endlich auf die Schliche kamen, hatten sie ein ganzes Lagerhaus voll von dem Zeugs, und ein Labor, in dem sie es zusammenkochen … aber der Kerl, der das alles ausgeheckt hat, Iwanow, war schon über alle Berge und beschäftigte sich längst mit etwas anderem.«

Sie unterbrach sich, um ihren Tee auszutrinken, und White Horse wartete darauf, dass sie fortfuhr. Sie vermutete, Mary nahm an, sie verstünde das eine oder andere nicht und vereinfachte es daher absichtlich, doch sie sagte nichts. Sie wollte von Jude hören.

»Dem Kerl war einfach nicht beizukommen, denn keiner der Russen wollte reden, und Aufzeichnungen gab es nicht. Ein paar Monate später gingen wir in Alabama einer Spur nach, die darauf hindeutete das jemand zu Hause eine Schmalspur-Anthrax-Produktion aufgezogen hatte – da unten glauben sie ja noch immer, sie könnten damit entweder die Regierung ausschalten oder es der Heimatverteidigung zur Verfügung stellen, falls irgendwelche Araber mal wieder der Meinung sind, sie müssten wegen Blasphemie oder sonstwas bei uns Feuer vom Himmel regnen lassen.« Sie schüttelte den Kopf mit den kupferfarbenen Locken und lachte schnaubend, wie White Horse es mit weißen Politikern assoziierte, die im nächsten Moment eine herablassende Bemerkung über jemanden fallen lassen, auf den sie es abgesehen haben.

White Horse lächelte und nickte zustimmend, wie dumm sie doch seien.

»Also, wir bringen vier echte Südstaaten-Hinterwäldler wie aus dem Bilderbuch zum Polizeiposten, und einer von ihnen meint sich als Patriot aufspielen zu müssen. Auf keinen Fall will er die Schuld auf sich nehmen und die Ausländer decken, die ihn übers Internet mit dem nötigen Wissen versorgt haben. Er plaudert also aus, was er über die Gruppe weiß, und wir erkennen die Namen von Mafiosi wieder, die mit diesem ganzen Überlebens-Fanatiker-Scheiß handeln. Sie holen ihn sich aus Osteuropa, Messer und ausgemusterte Militärgewehre, all die Werkzeuge und den ganzen ›Wir-leben-im-Wald‹-Firlefanz. Das kennen Sie ja sicher …«

White Horse nickte. Das kannte sie sogar sehr gut. Mary meinte International Publications, und sie hatte mehr als nur ein Buch von ihnen. Nicht unbedingt das beste Material über das Problem, im Wald oder auf dem offenen Land zu überleben, aber man kam damit zurecht. Davon abgesehen gab der Verlag Zeitschriften über den gewaltsamen Umsturz und andere Themen für anarchische Aktivisten heraus. Wie Mary darüber sprach, hielt sie offenbar nichts davon.

»… und wir verfolgen übers Internet, woher sie die Keime erhalten haben, mit denen sie arbeiten, und stoßen auf niemand anders als Iwanow und seine Organisation … eine andere Abteilung, die Chemikalien und biologisches Material aus alten sowjetischen Forschungsanlagen verschiebt, in denen alte sowjetische Wissenschaftler in der alten Heimat für sie arbeiten. Eine echte Industrie aus alten Waffensystemen und alter Ideologie!« Sie grinste. »Sie waren unser größter Fang – wir haben die Burschen zusammen mit dem ATF[4] und dem Zoll in die Mangel genommen. Jude gab sein Bestes. Danach hat er sie infiltriert und kennen gelernt, sodass wir problemlos mehrere Fallen stellen konnten. Er redet Russisch, als wäre es seine Muttersprache. Spricht er auch Cheyenne?«

White Horse fühlte sich durch diese Frage völlig entwaffnet. »Das kann er schon«, antwortete sie wahrheitsgemäß, zögerte und fügte hinzu: »Er tut es nur nicht.«

»Ich habe gehört, Sie hätten sich vor langer Zeit entzweit«, sagte Mary, die Augenbrauen vor Neugier hochgezogen. »Aber Jude spricht nur ungern darüber. Finden Sie nun doch wieder zusammen?«

Ihre Neugierde erschien White Horse ungehobelt, doch sie zwang sich zu einer Antwort. »Wir reden miteinander.«

»Gut.« Mary schlug die langen Beine übereinander und zuckte spielerisch mit dem großen Zeh. »Wenn ich ehrlich sein soll, nimmt Jude die Arbeit viel zu ernst. Als er zu seiner Mutter gefahren ist … wer ist Ihr gemeinsamer Elternteil?«

»Der Vater«, sagte White Horse und dachte: Das muss sie doch schon wissen, oder hat er so wenig von mir erzählt? Obwohl sie Jude als einen weißen Jungen betrachtete, der sie verraten und verkauft hatte, wusste sie doch, wie melodramatisch dieses Bild war und wie sehr sie ihm damit Unrecht tat; darum war sie von dieser Erkenntnis besonders enttäuscht. Sollte er wirklich imstande gewesen sein, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht?

Unbekümmert fuhr Mary fort: »Jude brauchte die Ablenkung dringend, und als er Urlaub nahm, um nach Seattle zu fahren, war ich froh, wirklich froh, obwohl ich deswegen mit dem jüngsten Russen-Fall allein dastand – sie doktern an Babys herum, können Sie sich das vorstellen? Dieser Iwanow hat seine Finger wirklich überall drin!«

»Warum haben Sie ihn noch nicht verhaltet?«, fragte White Horse.

»Er genießt den Schutz der Regierung.« Mary verzog das Gesicht. »Anders kann es nicht sein. Jedes Mal, wenn wir versuchen, ihn festzunageln, verschwindet Beweismaterial, und Menschen werden plötzlich stumm oder sterben oder … na, alles geschieht, um zu gewährleisten, dass er entkommt. Er hat auch schon plastisch-chirurgische Eingriffe hinter sich. Außerdem wechselt er Pässe, Häuser, Autos, einfach alles.«

»Warum?«

»Ich wünschte, ich wüsste es. Es ist höllisch verzwickt.« Mary verdrehte die Augen. »Ich meine, er bringt Wissen mit, das die Regierung benutzen will – er kann Fäden ziehen, die staatliche Stellen offiziell nicht einmal berühren dürften. Und von seiner Sorte gibt es mehr als nur einen. Man lässt ihnen freie Hand, solange sie gelegentlich etwas an Land ziehen, das vom Verteidigungsministerium benötigt oder ersehnt wird. Und wenn wir den Burschen mit unseren Ermittlungen zu nahe kommen, lassen sie uns zurückpfeifen.«

White Horse lächelte und nickte; das wusste sie sehr gut. Trotzdem war sie neugierig. Das schwarze Gerät und ihr Haus gingen ihr nicht aus dem Sinn. Und ihre Überlebenschancen auch nicht. Sie versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken, und rieb vorsichtig über eine Brandnarbe. Sie hätte zu gern gewusst, ob Mary das Gespräch mit Absicht in diese Richtung lenkte – für den Fall, dass Jude sie doch umfassend eingeweiht hatte.

»Und wenn Sie trotzdem weiterermitteln würden, was wäre dann?«

Mary lächelte. »Das weiß ich nicht genau. Vielleicht stößt uns dann ein Unfall zu, oder man würde uns zurückbeordern und feuern – so stark belastet, dass niemand uns noch ein Wort glaubt, egal zu welchem Thema. Vielleicht würden wir in Alabama enden und versuchen, Bomben zu basteln, die wir ans Auto des Präsidenten kleben wollen, und schrieben Artikel für den National Enquirer.« Sie blickte auf die Uhr. »Wenn er nicht bald aufkreuzt, muss ich gehen. Zu Hause wartet ein ganzer Berg Arbeit auf mich.«

»Noch Tee?«

»Nur ein Glas Wasser.«

Als White Horse die Tassen abtrug, sagte Mary: »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist mit Ihrem …«, und sie wies mit dem Finger auf ihren eigenen Hals, ihre Ohren und ihre Hände.

»Ein Feuer in meinem Haus«, antwortete White Horse. »Kabelbrand. Ich bin noch gut davongekommen. Nichts Ernstes.«

»Sieht übel aus.«

»Ich hab Tabletten.«

»Wohnen Sie hier, während Ihr Haus repariert wird?«

»Ja.«

Mary folgte ihr in die Küche und lehnte sich an die Anrichte, während White Horse ihre Kaffeetasse nachfüllte. »Wissen Sie was«, sagte sie, »ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Jude hat mir davon erzählt.«

Als White Horse sie ansah, machte sie eine alberne Grimasse, hinter der sie ihre Verlegenheit versteckte. Unter der blassen Haut befiel sie eine Röte, die jedoch rasch wieder verschwand. Sie bedachte White Horse mit einem mitfühlenden Blick und nahm das Glas Wasser, das sie ihr reichte. »Es fällt ihm nicht leicht, seine Hilfe bei solch einer Ermittlung anzubieten. Sein Job steht auf dem Spiel. Vielleicht sogar sein Leben, wenn es wirklich so schlimm ist, wie Sie glauben.« Ihre blauen Augen blickten todernst, und um ihren korallenroten Mund vertieften sich feine Fältchen.

White Horse fühlte sich schuldbewusst. »Wenn wir nichts unternehmen, verliert mein Volk sein Land«, sagte sie schließlich.

Mary seufzte. »Ich verstehe. Meine Eltern sind aus ihrem alten Haus verjagt worden, als das Land für einen zahlungsfähigeren Markt neu erschlossen wurde. Dass ihr Vertrag ihnen das Recht gab, auf dem Land zu bleiben, haben sie überhaupt nicht begriffen. Sie dachten, für einen Haufen Exbergleute wären ein paar hundert Dollar ein gutes Geschäft.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen sahen verschleiert in die Ferne. Als sie den Blick wieder auf White Horse richtete, grinste sie und nickte nachdrücklich. »Das Glück der Iren, was? Man darf nicht aufgeben und muss immer schön am Ball bleiben.« Sie trank das Glas leer und gab es White Horse zurück. »Danke. Hören Sie, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann … Sie brauchen was Besseres als einen heißspornigen Anwalt, Sie brauchen einen, der sich auch vor dem Schlimmsten nicht fürchtet, das die Regierung ihm vor den Kopf schlägt. Jemanden, der für Schutz zahlen kann. Sie brauchen einen Journalisten. Ich könnte ein paar Leute anrufen, lassen Sie es mich wissen.«

»Ich danke Ihnen.« Mit dem Gefühl, dass Jude immerhin nicht alles falsch gemacht habe, brachte White Horse sie zur Tür. »Ich sage ihm, dass Sie hier waren.«

»Sagen Sie ihm vor allem, dass er mich anrufen soll, sonst gibt’s Ärger!« Mary winkte ihr aus dem Korridor zum Abschied zu.

Sie hat ein nettes Lächeln, dachte White Horse.

 

Kniend schrubbte Dan den Küchenboden. Das Seifenwasser war so heiß, dass er es gerade noch aushalten konnte. Seine Hände waren wund. Ein bisschen kam er sich wie ein Idiot vor, wie so ein Katholik, der seine Buße in der albernen Hoffnung verrichtete, sie mache irgendeinen Unterschied für das, was er war, getan hatte und sein würde.

Der Küchenboden war das Letzte, das in der Wohnung noch gesäubert werden musste. Alles andere war poliert, gewachst, geschrubbt, ausgeklopft, gelüftet, gewaschen, gebügelt, in die Reinigung gegeben oder im Müll. Dan war erschöpft. Die Uhr an der Wand, die das Verstreichen jeder Stunde gemessen hatte, die er mit Natalie in dieser Wohnung lebte, zeigte unmögliche vier Uhr morgens. Dan war erschöpft; trotzdem wollte er weitermachen. Er schrubbte die letzten zehn Zentimeter noch einmal. Was er tun würde, wenn er den letzten halben Meter hinter sich hatte, wusste er nicht zu sagen. Auf den Morgen warten, die Zeit zu sterben.

Natalie würde nie wieder zurückkommen. Dan hockte auf den Absätzen und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Mit Befriedigung und Mutlosigkeit zugleich spürte er die schwammige Wärme. Das Ministerium hatte Natalie mit ihrem Vater weggeschickt, und aus der Gerüchteküche, die offiziell Personalkantine hieß, wusste er, dass sie eingewilligt hatte, ihn nach Amerika zu begleiten, zu einer schnelleren, perfekteren Version des großen Projekts. Ihn, Dan, hatte sie nicht mehr angerufen, und er hatte weder ihr Pad noch das Haus erreichen können, das Natalie, bevor dieser Mann auftauchte, wie die Pest gemieden hatte.

Aber wie sie ihn in Q-1 angesehen hatte! Sie war anders gewesen. Sie hatte es gewusst. Er war ein Mistkerl. Er hatte sie an diese Shelagh verraten und konnte es ihr nicht einmal sagen, aber das war auch gar nicht nötig gewesen. Das System hatte sie intelligenter gemacht oder so was. Als sie ihm ins Gesicht blickte – er schauderte und krümmte sich am Boden. So fest er konnte, rieb er an dem kleinen gelben Fleck auf dem Bodenbelag.

»Weg mit dir, verdammter Fleck«, sagte er zu sich selbst, »weg, weg, weg«, und lachte, weil er ein Trottel war und Trottel solchen Blödsinn reden und solch einen fatalen Fehler begehen und dann darüber lachen müssen. Lady Macbeth war ein ehrgeiziges Miststück gewesen, aber mit Ehrgeiz hatte er noch nie ein Problem gehabt. Mit mangelndem Ehrgeiz schon mehr, der fatalen Version von Glückseligkeit in den mittelmäßigen Kreisen, aus denen er stammte.

Wo war Natalie? Er musste ihr alles erklären. Er musste ihr alles erzählen und gegen das ankämpfen, was diese verfluchte Shelagh-Hexe in seinen Kopf geschmuggelt hatte. Ja, schon gut, er war sich im Klaren darüber, dass es NervePath sein musste. Jetzt brauchte er wirklich nicht noch mit dem Scanner nachzusehen, oder? Offensichtlich nicht. Eine Reihe von Blöcken, die stärker waren als alles, was er mit seiner Willenskraft je würde erzeugen können. Er war im Arsch, und nur Natalie konnte ihm helfen. Und er musste sich entschuldigen. Das vor allem. Sie musste ihm vergeben. Gar nicht auszudenken, wenn sie ihm nicht verzieh. Joe und die anderen hatten angerufen, aber sie nutzen ihm nichts. Nur Freunde zählten, und er wusste, dass er nur eine echte Freundin hatte.

Ray Innis hatte ihm mehrere Nachrichten hinterlassen. Es ging um ein Treffen.

Dan war nicht hingegangen. Bildanrufe. Er fragte sich, welche Straßen er ungefährdet benutzen konnte. Sich Ray zu widersetzen, war eine sehr uncoole Idee. Wenigstens hatten die verdeckten Ermittler, die sich draußen vor dem Haus herumtrieben, Ray bislang davon abgehalten, ihn in der Wohnung aufzusuchen. Dan wurde genau überwacht. Man spielte mit dem Gedanken, ihn offiziell festzunehmen, das wusste er. Jedenfalls war es nur eine Frage der Zeit, bis sie genügend Beweismaterial gegen ihn zusammenhatten, und dann hätte er erst recht keine Chance mehr, Natalie zu sehen.

Er hielt inne und versuchte erneut beide Nummern. Besetzt.

»Scheiße!« Er warf sein Pad in den Eimer mit dem heißen Wasser, und es versank unter den Seifenblasen.

Über die Schmerzen in seinen Knien murrend, stand er auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Bevor er Zeit hatte, es noch einmal zu überdenken, zog er sich den Mantel an und stieg in die Schuhe. Dann ging er zurück in die Küche, fischte das Pad aus dem Eimer und steckte es ein. In Natalies Zimmer öffnete er das Fenster und kletterte an der Feuertreppe in den Hinterhof hinunter. Die Hoftür führte auf eine schmale Kopfsteinpflastergasse, die zwischen zwei Häuserreihen hindurchführte.

Ohne Zweifel war er schon entdeckt worden, doch er hielt nicht inne, um sich davon zu überzeugen. So schnell er konnte, ging er zum Fluss und folgte dann dem dunklen Ufer von St George’s Field am Wasserrand, bis der Weg auf eine Brücke traf. Über ihm flüsterte der ruhelose Wind in den Rosskastanien, und zu seiner Linken liefen Kräusel über das Hochwasser.

Auf den Straßen vor sich sah er nur wenige Autos. Die Straßenlaternen warfen ihr Licht auf leeres Pflaster. Nur noch etwa eine Meile.

Vor ihm erhob sich der glatte Bogen der Skeldergate-Brücke und warf schwarze Schatten. Eine Bewegung ließ ihn zögern, aber er glaubte, es wäre nur der Schimmer des Laternenlichts auf dem Wasser, der hochgeworfen wurde und über die Ziegelmauer tanzte. Auf jeden Fall musste er den Fluss überqueren. Er sprintete über die leeren Parkplätze zwischen ihm und dem Weg, der auf die Brücke führte. Eine Kamera, hoch oben an einem Metallpfahl angebracht, verfolgte ihn geräuschlos, und er fühlte sich sicher, obwohl er nicht sagen konnte, wieso ein Video seiner Ermordung nun einen Unterschied hätte bedeuten sollen.

Als er die Straße erreichte, war ihm unerträglich warm unter dem Mantel, und er schwitzte am ganzen Leib. Dennoch hatte Dan das Bedürfnis, das Gewicht zu spüren und sich geschützt zu fühlen. Er duckte sich unter einen Ahorn, und Mücken schwirrten ihm ins Gesicht. Er scheuchte sie mit Händen fort, die noch immer nach Schmierseife rochen, und dann sah er auf der anderen Straßenseite eine Gestalt, die sich ihm näherte.

Sie kam mit schnellen Schritten herbei: ein Mann, dunkel gekleidet, das Gesicht auf den Gehweg gesenkt, die Hände in die Manteltaschen geschoben. Dan glaubte den Kerl wiederzuerkennen, der an der Straßenecke, in der Nähe der Kirche, auf Natalie gewartet hatte. Er trug heute andere Kleidung, aber dieses einschüchternde, vierschrötige Aussehen, die abgehackten Bewegungen … Dan blickte an ihm vorbei und sah zwei andere Menschen auf dem Gehweg, ein Pärchen, das Händchen haltend in raschem Schritt näher kam. Sie waren noch etwa fünfzig Meter entfernt. Kein Auto in Sicht. Es war still. Dan hörte ihre Schritte. Er blieb nicht stehen, doch sein Herz schmerzte plötzlich vor Beklommenheit.

Dem einzelnen Mann begegnete er zuerst. Er hob den Kopf. Es war tatsächlich der gleiche Kerl; er erkannte Dan im selben Moment, in dem Dan ihn erkannte. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich auf weniger als drei Meter. Dan sprang seitwärts auf die Fahrbahn, und in seinem Knie riss irgendetwas, doch er rannte eilig zum gegenüberliegenden Gehweg. Hinter sich hörte er den Mann fluchen und loseilen. Doch dann rief eine Frauenstimme: »Stehen bleiben! Sie da, bleiben Sie stehen!«

Er hörte schnelle Schritte, und dann packte ihn eine Hand am Kragen, schwer wie ein Block Blei. Dan wand sich, duckte sich. Er schlüpfte aus dem Mantel und wich der anderen riesigen Hand aus, doch dann stand er plötzlich gegen einen Zaun gedrängt und blickte in das hässliche, entschlossene Gesicht des unbekannten Agenten. Doch im nächsten Moment holten die beiden anderen sie ein.

»Wer sind Sie?«, fragte die Frau und ließ im schwachen Licht einen Ausweis des Verteidigungsministeriums aufblitzen.

Der Mann, der Dans Mantel noch in den Fingern hielt, wich einen Schritt zurück und ließ ihn fallen. Seine Blicke zuckten hin und her, er suchte nach einem Fluchtweg, doch der jüngere Mann bedrohte ihn mit einer Pistole, daher hob er, anstatt eine Dummheit zu begehen, vorsichtig die Hände und maß sie alle mit einem kalten, durchdringenden Blick.

»Mr Connor, wohin wollten Sie?«, fragte die Frau mit müder Stimme.

»Wir leben in einem freien Land«, entgegnete er schwach.

»Aber Sie sind kein freier Mann«, erinnerte sie ihn. »Ihnen ist jeder Kontakt zu Doktor Armstrong untersagt. Wollten Sie etwa zu ihr?«

Dan bemerkte, dass er plötzlich errötete. »Ich muss unbedingt …«

»Gehen Sie nach Hause, Mr Connor«, sagte der Mann. »Agent Day ruft Ihnen ein Taxi.«

Die Frau hantierte mit ihrem Pad, während ihr Begleiter Dans Angreifer neue Fragen zubrüllte.

Dan blickte auf die stille, vormorgendliche Stadt. Bei dem Gedanken, in die Wohnung zurückzukehren, zum letzten ungeschrubbten halben Quadratmeter, schwand ihm der Mut. Arbeit und Leere lagen drohend vor ihm, Tage und Nächte, in denen er beobachtet wurde, angebunden wie ein Hund und schließlich verhaftet. Vielleicht kam er ins Gefängnis. Natalie flog schon bald.

Während die anderen miteinander beschäftigt waren, erkannte Dan seine Chance. Er wirbelte herum, so schnell er konnte – dabei schoss ihm ein scharfer Schmerz durchs Knie –, packte die eiserne Geländerstange, warf das eine Bein hoch, zog das andere nach und sackte plötzlich ab.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, landete er im Wasser. Es war viel kälter und sandiger, als er geglaubt hatte. Wild schlug er um sich und brach durch die Oberfläche. Er fand sich unweit des gegenüberliegenden Ufers wieder. Er versuchte näher zu schwimmen, doch seine Schuhe waren schrecklich schwer, und sein Knie sandte feurige Stiche aus, die so heftig waren, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Er musste zusehen, wie die Brücke langsam und unerbittlich über ihm hinwegzog. Er versuchte noch immer, das Ufer zu erreichen, doch seine Beine waren in einer schnelleren, tieferen Strömung gefangen. Sie rissen ihn herum und zogen ihn weiter nach außen. Etwas Weiches zerrte träge an seinem Fuß.

Während er darum kämpfte, den Kopf über Wasser zu halten, vermeinte er einen Schuss und laute Rufe zu hören. Dann platschte es noch einmal.

Unwichtig – er musste weiter versuchen, ans Ufer zu kommen. Und das tat er, während er am Radweg und an den Lagerhäusern vorbeigetrieben wurde, bis der Weg nach Bishopsthorpe abbog. Dort gelang es Dan, sich am Schilf festzuhalten, das am Ufer wuchs, und wie ein Fisch hing er in der kalten, beißenden Strömung. Als er versuchte, sich an Land zu ziehen, sah er Hände und einen ungeschlachten Kopf, die sich ihm unaufhaltsam durch das schwarze Wasser näherten.

Suchend fand Dan endlich Erde und Schlamm unter seinen Händen. Seine Füße scharrten über die scharfkantigen Ufersteine, und er schob sich aus dem Wasser. Laut quakend umflatterten ihn aus dem Schlaf gestörte Enten. Dan stand auf, brach aber sofort wieder zusammen: Sein Knie gab unter ihm nach. Heiß sandte es Höllenqualen durch seinen ganzen Körper.

Er würgte Wasser hervor und schüttelte sich. Sein Pad lag immer noch auf der Brücke. Der Mann kam näher.

Dan war so verdammt wütend auf sich. Noch gründlicher hätte man es wirklich nicht vermasseln können. Was war er doch für ein erbärmlicher, dämlicher, sauarmseliger Totalversager. Wahrscheinlich hatte er es nicht anders verdient. Trotzdem: Natalie verdiente es besser, und er musste sie vor Shelagh Carter und ihren Methoden warnen, bevor es dazu und auch für ihn selbst zu spät war.

Er drehte sich auf den Bauch, erhob sich auf die Hände und ein Knie und begann, auf die fernen Lichter der Bishopsthorpe Road zuzukriechen.

Er hatte noch nicht den harten Asphalt erreicht, als er hinter sich Platschen und Grunzen hörte. Der Agent holte ihn mühelos ein, setzte Dan einen Fuß in den Nacken und drückte ihn ins Gras.

»Ich glaube, für heute Nacht hast du mir Ärger genug gemacht«, sagte die tonlose Stimme, als gäbe es nicht Uninteressanteres.

Dan machte sich auf einen Tritt gefasst, der jedoch ausblieb. Er hörte, wie der Agent jemanden anrief, der ihn aufsammeln sollte, und dann wurde ihm sämtliche Luft herausgequetscht, als der Kerl sich schwer auf seinen Rücken setzte.

»Also, du blöder Scheißer«, sagte er beinahe liebenswürdig und seufzte. »Shelagh möchte dich sehen.«

Dan begriff, dass dieser Mann sich vor Shelagh fürchtete, sie sogar verabscheute, doch er gab keine Antwort. Er musste kämpfen, um auch nur ein bisschen Luft zu bekommen, und hatte das Gefühl, als könnten seine Rippen jeden Moment bersten. Er hatte verloren. Als er das Dröhnen eines Kleinlasters hörte, der auf sie zuhielt, und dann das scharfe Kreischen seiner Bremsen, wünschte er sich, Natalies System wäre in der Lage gewesen, telepathische Fähigkeiten zu wecken.

Natalie hatte viel geschlafen. Seit dem Zwischenfall hatte sie wenigstens zwölf Stunden am Tag verschlafen, überlegte sie, viel davon Tischschlaf mit langsamen Wellen, aus dem sie nicht einmal dann hätte erwachen können, wenn über ihr das Haus explodiert wäre. Es lag an ihrem Gehirn; es schloss auf zu den Effekten der Selfware, glättete die Kanten ein wenig, räumte auf, gewöhnte sich an die neuen Verhältnisse. Was immer geschah, bei jedem Aufwachen war sie ein neuer Mensch.

An dem Tag, an dem sie ihren Vater nach Amerika begleiten sollte, erwachte sie um fünf Uhr früh und fühlte sich alarmiert. In dem alten Haus herrschte Ruhe, und auf der Straße war Stille, doch ihr war, als klänge ihr noch ein greller Aufschrei in den Ohren nach – Füchse oder Katzen? Eine Stimme, meinte sie sich zu erinnern, ein Ruf.

Sie stand aus dem Bett auf, ging ans Fenster und blickte lauschend hinaus. Ihr Zimmer lag zum Garten. Das war die falsche Richtung.

Sie schlüpfte aus dem Nachthemd, ertastete Jeans und ein T-Shirt, Socken und Schuhe, zog sich an und schlich sich nach unten. Das Nachtlicht der Diele brannte, und der Sicherheitsposten an der Haustür schnarchte leise in seinem Sessel. Unter der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters drang helles Licht hindurch, und sie hörte, wie er in unsteten Ausbrüchen wie ein Klopfkäfer auf die alte Tastatur einhämmerte. Auf der letzten Stufe blieb Natalie stehen, um sich die Schuhe zuzubinden, dann öffnete sie leise die Tür und schlich sich aus dem Haus.

Sie roch das Gras und den Fluss, als der Wind sie nach seiner Reise über die Rennbahn umwehte. Von der eine Meile entfernten Hauptstraße hörte sie gerade eben den Verkehrslärm. Am Gartentor trat ihr eine müde, dunkel gekleidete Gestalt entgegen.

»Wohin wollen Sie?«

»Spazieren. Wenn Sie mitkommen, seien Sie bitte ruhig und bleiben wenigstens zwanzig Meter hinter mir«, erklärte sie ihm forsch. Sie hegte keinen Zweifel, dass der Mann ihr gehorchen würde, und so war es auch. Er folgte ihr mit der Begeisterung und der Energie eines angestochenen Luftballons.

Der ersterbende Nachhall ihres Traumes war sehr schwach. Natalie folgte ihm, ohne infrage zu stellen, woher sie wusste, dass diese Abzweigung besser sei als jene, wenn sie an eine Wegkreuzung kam. Rasch überquerten sie das lange Gras des Knavesmire und näherten sich zwischen den eng beieinander stehenden Terrassen roter Ziegelhäuser der Hauptstraße. Dort bog ein Tankwagen der Brauerei gerade auf den Parkplatz des »Winning Post« ein, und seine Hydraulikbremsen gaben ein lautes Schnaufen von sich. Natalie überquerte ohne zu zögern die Straße, passierte eine Reinigung, einen Bäcker und ein Pad-Geschäft mit heruntergelassenen Stahljalousien; dann folgte sie in raschem Trab dem Radweg am Flussufer. Dort, wo der Pfad zur Uferböschung abbog, erstarb ihre Eingebung so unvermittelt, als wären ihre Batterien plötzlich leer geworden. Sie hörte nur noch die Bäume, das Rascheln eines einsamen Entenpaares und das gelangweilte Schlurfen ihres Aufpassers, das zu ihr aufschloss.

Natalie sah, dass an dieser Stelle das Gras nass war, und entdeckte zwischen dem Rasenstreifen und der Böschung eine schlammige Schneise mit Handabdrücken und Fußspuren. Außerdem sah sie eine frische Reifenspur. Sonst nichts. Sie schaute zur Brücke hoch, die etwa zweihundert Meter entfernt war, und entdeckte darauf einen geparkten Polizeibus mit abgeblendeten Scheinwerfern.

Sie fragte sich, was sie hier in den frühen Morgenstunden zu suchen hatte, und blickte über den Fluss zu ihrer alten Wohnung hinüber. Da sie schon in der Nähe war, überlegte sie, dass sie nun auch noch die Brücke überqueren und nachsehen könnte, ob sie Dan zu Hause antraf. Das wäre ihre einzige Chance, teilte ihr die ältere Sektion ihres Geistes mit. Ein neuerer Teil entgegnete, Dan sei schon gar nicht mehr in York. Näher als hier am schlammigen Gras könne sie ihm nicht mehr kommen.

Diese Eingebung und den Wächter ignorierend, wandte sie sich flussabwärts und ging weiter. Sie war noch immer ziemlich weit von ihrer Straße entfernt, als sie an der Ecke eine dicke Traube abgestellter Polizeiwagen entdeckte, von zahlreichen Gestalten umstanden. Sie wollte zu ihnen gehen und Fragen stellen, doch ein deutliches Unbehagen hielt sie im letzten Augenblick davon ab, sich in ihre Richtung zu wenden. Stattdessen wechselte sie auf eine Parallelstraße und näherte sich wieder ihrem Haus. Jedes Mal, wenn sie um eine Ecke bog und außer Sicht verschwand, hörte sie ihren Wächter herbeieilen.

Sie wusste, dass Dan nicht in der Wohnung war. Vielleicht war er Einkaufen, dachte sie, und suchte ihn im Laden, doch dort hielten sich nur der Kassierer und eine Putzfrau auf, die lustlos den Boden zwischen den Zeitschriftenständern wischte und Natalie begrüßte. Es fiel ihr sehr schwer, den Laden wieder zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen, denn sie wusste, dass sie diese Menschen niemals wiedersehen würde.

Also, dachte sie, siehst du es endlich ein? Er ist weg. Weg. Ein Schauder durchlief sie vom Scheitel bis in die Zehenspitzen. Wenn die Polizei Dan nicht hatte, wo konnte er dann sein?

Der Morgen dämmerte hell, als sie das Haus wieder erreichte. Natalie war verwirrt und ihr fröstelte. Sie zog die Schuhe aus, ließ sie in der Diele und ging nach oben in das Zimmer, das ihrer Mutter gehört hatte. Das Erkerfenster überblickte die Rennbahn; darunter war eine kleine, gepolsterte Sitzbank, auf der Natalie Platz nahm. Sie starrte auf das Gelände, das sie durchquert hatte, und versuchte zu begreifen, was wortlos und spurlos vor sich ging. Immer wieder trat ihr das Bild des schwarzen Wassers und des schlammbeschmutzten Bodens vor Augen, der Geruch nach feuchter Erde und nach … nach Fußbodenreiniger. Jawohl, nach Schmierseife, der ein aufdringlicher Duftstoff beigemischt war, der an eklig-süße Blumen erinnerte.

Wo war Dan? Natalie wusste keine Antwort. Wenn Dan im Fluss gewesen und gestorben war … doch Natalie glaubte nicht, dass er tot war. Sie empfand nicht diesen Schlag in den Magen, den sie gespürt hatte, als man ihr den Tod ihrer Mutter mitteilte; schon beim ersten Wort hatte sie es gewusst und nicht erst, als alles gesagt war. Die Gründe waren Nebensächlichkeiten gewesen, absurde Details, die eine bedeutende, unerschütterliche Tatsache ausschmückten. Später wurden die Gründe und Einzelheiten zum einzig Wichtigen; die letzten Zusammenhänge und Erklärungen, die eine erzählte Geschichte krönten, deren Ende so unerwartet und knapp war, dass alles wertvoll erschien, was sie aus ihrer grauen Banalität erhob.

Natalie wandte ihre Aufmerksamkeit ab und blickte sich in dem Zimmer um, dessen weiches Grau gerade erst von der Wärme Farbe bekam.

Ein verzierter Regalschrank stand an der Wand, in den Mäuse und Weinranken geschnitzt waren. Darin fand sich eine komplette Sammlung des Tatlers seit 1980. Die Vogue war in Kisten verpackt und auf dem Dachboden abgestellt. Die Zeitschriften, für die Charlotte geschrieben hatte – Hello! und Abroad – wurden nicht so privilegiert behandelt und lagen in unordentlichen Stapeln herum oder wurden in Pappkartons aufbewahrt, die von einem Staubfilm bedeckt waren, weil die Putzfrau von Natalies Vater genauestens eingewiesen worden war, was berührt werden sollte und was nicht, und sie hatte die Anweisungen buchstabengetreu befolgt.

An uralten Klebepads hafteten Postkarten aus aller Welt auf der Tapete. Als Kind hatte Natalie sie dort als Erinnerungsstücke angebracht, damit ihre Mutter sie sah, wenn sie von ihren häufigen Reisen zurückkehrte, und ihr ruheloser Geist ein wenig Ruhe fände und ihr gestattete, zu Hause zu bleiben. Dieser Zauber hatte leider nicht gewirkt.

Natalie holte ein Bild von New York herunter und drehte es um.

Liebe Nat, habe einen anstrengenden Tag hinter mir: erst Führung durch den Verlag, dann Treffen mit den vielen wichtigen Leuten. Jetzt ist es spät, und ich schreibe dies, bevor ich meinen Entwurf durchtelefoniere; habe ein tolles Kleid gesehen und musste sofort an Dich denken – schicke Dir ein Paar Schuhe mit der Post, aber wahrscheinlich bin ich wieder da, ehe sie ankommen! Alles Liebe, Mum.

Zwischen den Regalen hingen Charlottes dilettantische Fotos in billigen Rahmen. Natalie besah sich einen verblichenen Abzug des Reichenbachfalls, und sie versetzte sich selbst dorthin, hinter die Augen, die das Motiv gesehen hatten.

Hatte sie gewusst, dass sie sterben würde, als sie an Bord des Flugzeugs ging?

Wie konnte unter diesen Wetterbedingungen jemand bei vollem Verstand mit einem Zweisitzer das Kap zu umfliegen versuchen? Hat sie uns geliebt? Warum hat das nicht gereicht?

Natalie hörte, wie die Küchenuhr leise halb sieben schlug. Irgendwo lagen die Antworten, verborgen in einem fernen Winkel der Raum-Zeit. Während ihrer Abwesenheit hatte Natalie auf der Grundlage ihrer Karte der bekannten Ereignisse eine Geschichte gesponnen. Doch solche Karten sind stets lückenhaft, und deshalb ist alles Begreifen immer nur eine Geschichte, und nicht mehr. Natalie selbst war eine Geschichte, ein Konstrukt aus Gründen und Zusammenhängen und Ideen, zusammengehalten von erzählerischen Verknüpfungen, die zu glauben sie sich entschieden hatte. Was, wenn keine davon der Wahrheit entsprach?

Natalie drückte die Postkarte wieder an ihren Platz, doch sie wollte nicht kleben. Sie legte sie auf den Schreibtisch. Alles, was sie seit dem Augenblick getan hatte, in dem Charlotte vom Blitz getroffen ins Meer gestürzt war, schien ihr durch die Elektrizität bestimmt gewesen zu sein, die plötzlich aus dem Nichts gekommen war. Sie hatte ihre Entschlossenheit geweckt, die Wahrheit herauszufinden, und sie immer dazu angetrieben. Ihr Therapeut jedoch hatte ihr gesagt, dass es sich dabei nur um den sublimierten Wunsch handle, die verlorene Liebe wiederzuerlangen – und war das nicht die traurige Wahrheit? Ein schreckliches Zufallsereignis hatte ihre Träume bestimmt, und hier war sie, den Kopf wieder erfüllt mit ihrer handgefertigten Verleugnung des Geschehenen, mit Träumen und Fragen.

Jude die Kokette vorzuspielen war nicht mehr gewesen als ein Versuch, Liebe an sich zu reißen – oder nicht? Dan war die Wirklichkeit, und er war fort.

Er hatte sie um einen Scanner gebeten. Weshalb?

Natalie stand von der Bank auf und ging in ihr Arbeitszimmer. Sie rief Judes Dateien von ihrer Disk auf und sah sie erneut durch.

Selbstverständlich wären diese Programme nicht die einzigen, die sich nun im Umlauf befanden, nun, da so etwas einmal möglich war. Warum auf die Vervollkommnung warten, wenn rasch zusammengehackter Ramsch es auch tat? Das war ausgemachter Wahnsinn, und ohne Zweifel gab es noch mehr primitive Befehle: Zuhören und Gehorchen … Vergessen … Gedächtnislöschung war sehr einfach, wenn man sich keine Gedanken zu machen brauchte, ob der betroffene Verstand intakt blieb. Löffel rein und umrühren, wie Jude sich ausgedrückt hatte.

Wenn Dan dieser Methode zum Opfer gefallen war, erklärte es die Gründe seines Verhaltens. Dann aber drohte ihr weit größere Gefahr als vermutet – sie saß mit dem Kopf voller empfänglicher Naniten herum. Sie musste diese Schnittstelle schließen, bevor jemand anders sie benutzte. Nur wusste Natalie leider nicht wie. Wahrscheinlich konnte jeder Stilllegungsbefehl auch widerrufen werden.

Sie hörte das Öffnen und Schließen von Türen im Erdgeschoss. Schichtwechsel. Bald schon war es Zeit zum Aufbruch. Natalie hatte auch so schon sehr wenig Handlungsspielraum.

In ihrem Gepäck hatte sie einen Scanner-Prototyp. Er war bereits verpackt, aber sie ging ihn trotzdem holen. Kaum hatte sie ihn, als sie die neuste Version von Selfware hineinkopierte, einen besonderen Befehl zur zeitbegrenzten Ausführung modifizierte, ihn auf sich richtete und den Abzug drückte. Das Programm sollte sie an einen Punkt bringen, der nur ganz knapp von Bobbys fataler Diskontinuität entfernt war.

Schon bald war sie entweder so klug, dass sie eine Lösung ersinnen konnte, oder so weit von der Alltagswelt entfernt, dass ihr alles egal wurde. Eine typische Dan-Lösung. Sie lächelte voll Nostalgie, während sie sich über die Unfairness, die Dummheit und die Gier innerlich so bitter und wütend fühlte wie noch nie im Leben.

 

Jude wurde in der Frühe durch einen Anruf von Nell Rush, der Biologin, geweckt. Sie hinterließ ihm eine Nachricht, sich mit ihr im Einkaufszentrum zu treffen. Das Ansinnen erstaunte ihn nicht sonderlich; in der Nähe des Gebäudes von Special Sciences sprach sie nur sehr ungern über alles auch nur ansatzweise Unorthodoxe, und Jude bezweifelte nicht, dass als sehr unorthodox gelten musste, was immer Tetsuo in die Ampulle gefüllt hatte.

Im Bett liegend, blickte er auf die Uhr, lauschte auf den fernen Verkehr und verzog das Gesicht, als er sich an Atlanta erinnerte, an die Szene in der Küche. Während einer akuten Situation fiel es ihm leicht, kühlen Kopf zu bewahren; einen Tag später, wenn alles wiederkehrte und alle abstoßenden Besonderheiten ungemildert zum Vorschein kamen, hatte er es schwerer. Nicht dass er Tetsuo persönlich gekannt hätte, es sei denn als Kontaktmann, mit dem er nur sehr selten zu tun hatte und der aus dem allgemeinen Bestechungstopf bezahlt wurde, aber er war ihm vorher begegnet. Der Anblick von jemandem, der gelebt und geatmet hatte und zu einem Haufen Fleisch inmitten seiner persönlichen Umgebung reduziert war – davon wurde ihm übel. Jude wollte nicht darüber nachdenken, doch er konnte nicht anders. Und diese Katze – was für ein eigenartiges Tier. Doch sie war nur ein Tier. Warum also hielt er sie für das abstoßendste Wesen, das er je gesehen hatte?

Er musste aufstehen und sich duschen, um den Gedankengang aufzuhalten, bevor er sich weiterentwickeln konnte.

Als er aus dem Bett stieg, war White Horse bereits angezogen und machte Kaffee.

»Mary sucht mir eine gute Anwaltskanzlei«, sagte sie. »Und einen genauso guten Journalisten.«

»Mm-hmm.« Wenn jemand das konnte, dann Mary. Nett von ihr, dieses Angebot. Er rief sie an, aber der Antwortdienst und der Einteiler des Büro erklärten ihm, sie komme an diesem Tag nicht ins Büro, sondern erledige zu Hause Arbeit und wolle nicht gestört werden. Das war in Ordnung; dadurch hatte Jude Zeit, mit Nell Rush zu sprechen.

»Was machst du heute?«

»Nicht viel«, antwortete White Horse. »Heute Nachmittag habe ich eine Videokonferenz mit dem Gemeinderatstreffen in Deer Ridge. Heute Morgen möchte ich spazieren gehen.«

»Bleib lieber hier«, entgegnete er; ihm behagte der Gedanke nicht, dass sie allein unterwegs war.

»Sicher«, sagte sie, doch ihre Miene verriet, dass sie nicht beabsichtigte, seinen Rat zu beherzigen.

»Lass dein Pad die ganze Zeit eingeschaltet. Ruf mich an«, wies er sie an, zog sich die Jacke über und rückte das Pistolenhalfter zurecht. Manchmal verdrehte es sich.

»Benutzt du die Waffe oft?«

»Nein«, sagte er.

»Halt sie sauber.«

»Mach ich.«

»Gut.« Sie wandte sich wieder der Zeitung zu. »Hier steht, Micromedica-Versuche in England hätten gezeigt, dass die NervePath-Neurotechnologie in vivo funktioniert.« Sie sah ihn an, als er bei ihren Worten erstarrte. »Glaubst du, wir sind damit gemeint?«

»Wahrscheinlich.« Die Neuigkeit warf für Jude die Frage auf, was dort drüben vor sich gehe. Kein Wort von Dan, von Natalie oder sonst wem. Jude hatte dort niemanden, der ihm sagen konnte, was mit ihnen war; da kam er nicht weiter. Er zuckte mit den Achseln. »Ich versuche es herauszufinden. Halt dich bis dahin von Schwierigkeiten fern.«

Sie schnaubte, als er ging, und rief ihm hinterher: »Übrigens hat dir Onkel Paul noch mehr von seinem Überschuss an Erdnussbutter geschickt. So was bekommst du nicht in Washington, sagt er immer. Ich hab sie unter die Spüle zu den anderen Dosen gestellt. Wann wirst du sie essen? Sie halten sich nur noch ein paar Jahre.«

»Ich hasse das Zeug«, sagte er und hatte augenblicklich das Gefühl, ihm klebte die Masse am Gaumen, während die kleinen Stückchen sich wie von selbst zwischen Backenzähnen und Zahnfleisch verkeilten. »Such dir eine Wohlfahrtsorganisation, der du es spenden kannst.«

»Du bist seine Wohlfahrtsorganisation. Das ist ein Care-Paket. In Washington gibt es nur hochgestochenes Essen. Ein ökobewusster Yuppie bekommt nicht genug Kalorien.« Sie kicherte. Beide wussten sie sehr gut, dass Onkel Paul außerordentlich fettleibig war, weil er Nahrungsmittel als den besten Schutz vor den meisten Übeln der Welt betrachtete.

»Ich bin ihm auch wirklich dankbar.« Er blinzelte ihr zynisch zu und wunderte sich, während er die Tür schloss, wie um alles in der Welt seine Familie drauf sei. Er war tatsächlich dankbar, aber verwirrt. Erdnussbutter. Jeden Monat schickte Paul ihm eine ganze Badewanne voll davon. Jude besaß genügend Erdnussbutter, um ganz allein eine Stiftung zur Rettung der Dritten Welt zu gründen. Er musste jemanden suchen, der Erdnussbutter wirklich mochte, aber er vergaß ständig, sich darum zu kümmern.

Der Zeitungsartikel veranlasste Jude, Nostromo auszusenden, um alle Beiträge zu diesem Thema aufzuspüren. Er bekam gerade eine Liste herein, als er den Rasen vor dem Ehrenmal des Koreakriegs erreichte und sich nach Nell umschaute. Die überlebensgroßen Soldaten wirkten halb aufgelöst; sie schienen aus der Erde aufgestiegen zu sein, Geschöpfe des Schlamms, in den sie gleichzeitig schon wieder niedersanken. Gleich neben dem Mann mit dem Funktornister entdeckte er Nells schlanke, adrette Gestalt, die langsam vor dem Denkmal entlangschlenderte und dabei ein Plunderteilchen aß. Jude berührte sie am Ellbogen, als er neben sie trat.

»Guten Morgen.«

»Jude.« Sie schluckte rasch und tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Hier, zuallererst das«, sagte sie und drückte ihm die Ampulle, noch warm von ihrer Tasche, in die Hand. Als sie ihm in die Augen blickte, lief ein Schatten von Furcht und Abscheu über ihre Maske aus guter Laune. »Bringen Sie mir nie wieder so etwas«, wisperte sie. »Kommen Sie damit nie wieder in meine Nähe. Himmel, ich wusste nicht mal, dass es so was gibt. Wissen Sie eigentlich, dass ich bis heute Morgen gebraucht habe, um herauszufinden, wozu das gut ist?«

Nell war tatsächlich grau im Gesicht und wirkte ausgezehrt. Jude entschuldigte sich und lud sie zu einem besseren Frühstück ein, doch sie lehnte ab. Sie verlangte, dass er die Ampulle in die Jacke steckte, und sagte: »In diesem Zustand ist es nicht lebensgefährlich. Wenn Sie die Ampulle zerbrechen, müssen Sie nicht etwa sterben.« Sie warf die ungegessene Hälfte ihres Teilchens in einen Mülleimer. »Aber wenn Sie das mit etwas anderem kombinieren, erhalten Sie eine wirksamere Seuche als den schwarzen Tod zu seiner Blütezeit.«

Während sie in Richtung Capitol spazierten, wartete Jude darauf, dass Nell mit ihrer Erklärung begann, doch er ließ ihr Zeit.

»Die Dinger in Ihrer Ampulle ähneln Micromedica. Allerdings handelt es sich dabei um eine Art Hybrid. Sie sind nicht einfache untätige Geräte, sondern fast lebendig. Oberflächlich sehen sie aus wie ein kleiner Organismus, eine Art Virus, nur größer. Sie haben auch ähnliche Eigenschaften: Sie dringen in Zellen ein und benutzen den Wirtskörper, um sich in großer Zahl zu replizieren. Dadurch entstehen Symptome wie bei einer Virusinfektion: Husten, Schnupfen, stark gesteigerte Histaminproduktion und so weiter. Nun, sie haben aber eine andere Funktion. Ich halte sie für eine Art Mantel, eine Hülle, in der etwas anderes in den Körper eingeschleust wird.«

»Ein freisetzendes System?«

»Genau, und ein sehr ausgeklügeltes.« Sie holte tief Luft und atmete beständig wieder aus. »Der Innenraum dieser Dinger ist groß genug, um mehrere Viren oder ein recht großes Bakterium aufzunehmen, eine gehörige Dosis eines Wirkstoffs oder … na, Sie wissen schon, alles Mögliche in dieser Größenordnung. Aber, und das ist der springende Punkt …«, als sie ihn anblickte, hatten sich tiefe Sorgenfalten in ihr Gesicht gegraben, »sobald sie sich replizieren, vermehren sie auch das, was sie in sich tragen.«

Jude schnaubte und schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Das ist unmöglich. Haben Sie das ausprobiert?«

»Selbstverständlich«, entgegnete Nell knapp. »Ausprobiert habe ich einiges. Ich habe eine Zellkultur damit geimpft und die Dinger in alles Mögliche gegeben, angefangen bei Salzsäure bis hin zu Wackelpudding. Unmöglich oder nicht, Sie können mir glauben, wenn sie die nötigen Rohstoffe haben, erzeugen sie eine perfekte Kopie von sich.«

»Was meinen Sie mit Rohstoffen?«

»Wasser, Salze – sie brauchen eine bestimmte Bandbreite organischer und anorganischer Baustoffe. Sie benötigen einen Wirtskörper, haben allerdings auch eine gute Stunde in verdünnter Mineralsäure überstanden. Sie sind ziemlich zäh.« Sie schüttelte den Kopf, schob die Hände tief in die Hosentaschen und scharrte mit den Schuhen über den Boden. »Wer immer es entwickelt hat, muss ein Einstein der Mikrobiologie sein. Aber begreifen Sie nicht das Problem? Massenvermehrung – und die Fähigkeit, alles Mögliche in sich zu tragen? Es muss einen Auslöser geben, der den Inhalt freisetzt – und den kenne ich nicht. Eine bestimmte Bevölkerungsdichte. Ich kann es eben nicht sagen. Auf jeden Fall lassen sich damit aus gewöhnlichen Bazillen tödliche Krankheiten machen. Binnen kurzem sättigen sie den Organismus, und das Immunsystem hat keine Zeit, mit der Abwehr zu beginnen. Man könnte an einem Schnupfen sterben.«

»Aber wenn diese Dinger eine Art Medikament tragen«, erwiderte Jude, »könnten sie eine Krankheit doch auch sehr schnell heilen?«

»Das wäre möglich«, stimmte sie zu. »Aber wissen Sie was? Micromedica-Anwendungen passen ebenfalls in den Hohlraum, und die Dinger reproduzieren auch sie.«

Sie blieben mitten auf dem Weg stehen und traten zur Seite, um ein paar Jogger vorbeizulassen. Jude musste einen Augenblick darüber nachdenken.

»Ansteckend?«, fragte er.

»Darauf können Sie wetten. Tröpfcheninfektion, Hautkontakt, kontaminiertes Wasser – sie nutzen die gesamte Bandbreite der Übertragungswege.«

»Ist die Reaktion darauf stark?«

Nell nickte. »Sie würden so sehr husten und niesen, dass Sie als Spraydose durchgehen.«

»Hm. Sterben sie je ab?«

»Jude, die Dinger haben eine Micromedica-Schnittstelle. Sie nehmen Befehlszeilen entgegen. Sie sterben ab, wenn Sie es ihnen befehlen.«

»Eine programmierbare Seuche?«

»Ein programmiertes Übertragungssystem«, verbesserte sie ihn. »Und denken Sie nach, Jude, das ist noch nicht alles. Dieses Zeug befällt einzig und allein Menschen, aber nichts in der Tierwelt. Es erkennt Gensequenzen. Die Dinger könnten mich von Ihnen unterscheiden.«

Er starrte sie an. »Man kann doch nicht so viele Fähigkeiten auf so engem Raum unterbringen.«

»Das biochemische Ingenieurwesen ist weit gekommen, seitdem Sie Ihren Abschluss gemacht haben.« Nells Gesicht war verhärtet. »Ich weiß nicht, wofür man sie einsetzen will, aber ich hoffe bei Gott, dass ein verantwortungsbewusster Mensch darüber entscheidet. Gehören sie uns?«

»Ich habe sie über die CDC erhalten«, gab er zu.

Sie nickte. »Okay. Okay. Das war’s für mich. Ich habe nichts mehr damit zu tun. Wir sehen uns.« Mit erhobenen Händen wich sie zurück. »Und wenn Sie das nächste Mal etwas finden, denken Sie bitte nicht zuerst an mich.«

»Hören Sie, Nell«, begann er. »Es tut mir Leid …«

»Schon gut.« Sie drehte sich um und schlug den Nachhauseweg ein.

Jude blickte ihr nach und setzte sich dann auf eine Bank in der Nähe. Es war schon warm, aber die Sonne stieg erst noch in den blauen Himmel, und der Stadt stand ein weiterer stickiger Tag bevor. Kein Wunder, dass man Tetsuo für seine Einmischung liquidiert hatte; aber wer war man? Und recht bedacht – hatte er wirklich sterben müssen? So gut war die Ampulle nun auch nicht versteckt gewesen. Vielleicht war Tetsuos Beseitigung schon länger geplant gewesen, weil man befürchtete, er könnte reden, aber ohne gewusst zu haben, dass er etwas auf die Seite geschafft hatte.

Ob man Tetsuo durchschaut hatte oder nicht, konnte Jude nun nicht mehr feststellen. Die Fähigkeit zur Gensequenzerkennung und die Ingenieurskunst erinnerten ihn jedoch sofort an das Unternehmen, das Iwanow in Florida betrieben hatte, nur dass der Umfang hier alles da Gewesene weit zu übertreffen schien. Kein Wunder, dass Mary nichts gefunden hatte, wenn Iwanow und sein Betrieb vor ihrer Ankunft von der Regierung evakuiert worden war. Die Absprache zwischen den Abteilungen war wirklich verbesserungswürdig – doch niemand redete freiwillig über solche Dinge. Niemals. Stellte das System in der Ampulle einen Rechtsbruch dar? Mehreren internationalen Abkommen zufolge ja, doch hier hatte Jude es und zweifelte kaum noch, dass es amerikanischen Ursprungs war. Vielleicht sollten sie sich bei ihrer Einladung nach Dugway genau dieses System ansehen, die legitime Antwort der Vereinigten Staaten auf die Bedrohung durch biologischen Terror.

Es war und blieb jedoch eine verheerende Waffe. Nell musste es vorgekommen sein, als beobachtete sie den allerersten Atombombentest. Schlimmer noch. Diese Waffe besaß potenziell die Genauigkeit eines Skalpells, verglich man sie mit der Hammerwirkung konventioneller Bomben und Schusswaffen. Die Vorstellung, über ein System mit genetischer Zielerkennung und variabler Nutzlast zu verfügen – Jude fühlte sich solcher Verantwortung nicht gewachsen. Er saß auf seiner Bank, betrachtete die vorübergehenden Leute und blickte auf das Gras, ohne etwas zu denken. Schließlich stand er auf und ging zur Arbeit, in der Jackentasche die Ampulle, die so leicht war, dass er sie nicht spürte.

Mappa Mundi
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